Merlin. Mythos und Gegenwart

Der Mythos, wie ich ihn verstehen möchte, ist hier nicht als Ausdruck einer mythischen Epoche oder als Überbleibsel des vorrational-mythischen Denkens gefragt, sondern interessiert vor allem in seinem Verhältnis zur Gegenwart; d. h. es wird untersucht, ob er, der einmal die Wahrheit einer Vergangenheit war, auch wieder diejenige der Gegenwart und vielleicht sogar der Zukunft sein könnte. Die unbedarfte Rechtfertigung für eine solche Erwartung heißt: Der Mythos ist die Offenbarung einer ewigen Wahrheit, er gibt Kunde vom Immer-Seienden. Ich unterstelle bescheidener: Der Mythos erzählt symbolisch von dem, was sein kann und sein soll. Die Götter und Heroen, von denen im Mythos berichtet wird, sind Phantasie- und Wunschgestalten, Sinnbilder davon, was ein Volk, was eine Kultur zur Selbstbehauptung über sich erhoben, zuhöchst gewertet hat. Geltung würde dieser Erklärungsversuch gleichermaßen beanspruchen für polytheistische Gottheiten wie Isis und Osiris oder Apollo und Aphrodite etc. wie für die monotheistischen Jahwe, Christus und Allah und ebenfalls für Halbgötter und Heroen vom Typ Gilgamesch, Krischna, Herakles, Siegfried, Artus. In ihnen allen wären nach diesem Credo Möglichkeiten oder Wünschbarkeiten des Menschseins vor das geistige Auge gerückt, und diesen Möglichkeiten kann allemal durch den Glauben an sie Wirklichkeit verschafft werden. Denn Wirklichkeit, d. h. Wirksamkeit haben alle diese Götter und Halbgötter natürlich nur für den gehabt, der an sie glaubte. Den Griechen hat der hohe, blaue, heitere Himmel einmal Zeus geheißen; aber genauso die furchtbare Übergewalt, die den Blitz schleudert oder menschenfreundlich den fruchtbaren Regen schenkt; oder was ihnen der majestätische, allesregierende Geist als schätzenswerteste Macht auf Erden bedeutet hat. Andere nannten diese göttlichen Wesenheiten anders oder verehrten andere Götter, d. h. ihnen erschienen andere Wirklichkeiten bedeutsam, oder erschien die Wirklichkeit anders bedeutsam, und so fort durch die zahllosen, unterschiedlichen Wertewelten der Religionen und Kulturen hindurch.

Inzwischen ist all diesen Mythen, d. h. Erzählungen über Wesen und Taten der Götter, eines gemeinsam, nämlich ihre bildhafte Form und ihr symbolischer Charakter. Allemal sind es Bilder, die um den Glauben der Gläubigen werben, Sinnbilder, soll heißen, Bilder, die einen Sinn haben, die etwas bedeuten. Wird an solche Bilder und Sinnbilder „geglaubt“, können sie als Vorbilder wirken und ihr Teil zur Bildung beitragen, wenn im Sinne ihrer „Wahrheit“ vom „Wesen“ des Menschen der einzelne Mensch dem angesonnenen Menschsein in seinem Leben Wirklichkeit zu verschaffen versteht. Das Bild von der Menschlichkeit des Menschen, das ein Sinnbild ist, das zu denken gibt, das gedeutet werden muss, um seine Bedeutsamkeit zu erkennen, mithin welchen Bedürfnissen und Zielen des Menschseins und welchen Seiten der Wirklichkeit es entspricht, dieses Bild kann auf solche Weise zum wirksamen Vorbild werden, zur Aufgabe, ja zur Verpflichtung, sich gemäß dieser Wahrheit seines Seins selber zu dem wirklich zu schaffen, was der Mensch wesentlich ist, sich zu bilden; dem vorausgesetzten Wesen des Menschen in sich individuellen Ausdruck und konkrete Gestalt zu verleihen.

Einer der fundamentalen Glaubensartikel einer solchen Pädagogik des Vorbilds hätte zu lauten: In der Erziehung geht es ebenso sehr wie um die Erziehung von Kindern um diejenige der Erwachsenen, um die Erziehung der Erzieher, also auch um Selbsterziehung oder Selbstbildung, die ohne ein Bild von sich, ohne Selbsterkenntnis nicht gut möglich erscheint. Zuletzt entscheidet, was einer ist, darüber, was er zu bewirken vermag. Demnach wäre das Geheimnis der Erziehung, einer Erziehung, die in die Tiefe dringt, die verwandelt, darin zu erblicken, dass erziehen nur kann, wer etwas ist, und nur durch das, was er ist.

Indes stünde vor der Selbstbildung, wie gesagt, die Selbsterkenntnis, ein Wissen um die „Wahrheit“ des Menschenwesens. Und es bedürfte eines Lehrers solcher Wahrheit, eines weisen Pädagogen, der diese Wahrheit sowohl kennte als auch selber wäre. Selbstredend könnte dieser anspruchsvollsten Bildungsaufgabe nur ein mythischer Pädagoge oder besser Psychagoge nachkommen, eine erhöhte, durch „Dichtung“ verklärte Wunschgestalt eines Meisters der Einweihung in das Geheimnis von Leben und Tod.

Im christlichen Abendland ist dieser gesuchte mythische Lehrer „wahrer“ menschlicher Existenz in Gestalt des Gottessohnes Jesus Christus längst gefunden. Der Weg, den dieser dem Christentum gewiesen hat, heißt, wie bekannt, Imitatio Christi, Nachfolge Christi. Jeder Christenmensch ist daher verpflichtet, so zu leben, wie es Jesus Christus als vollkommenes, göttliches Vorbild gelehrt und vorgelebt hat. Der Mythos Jesu Christi, der diesen als die Wahrheit und das Leben vorstellt, bildet so verbindlich für jeden Gläubigen Maß und Ziel seiner gottgefälligen Existenz.

Aus Gründen, die im Buch umständlich erörtert werden, habe ich jedoch einen anderen mythischen Pädagogen gewählt, den weisen Zauberer und Propheten Merlin, Gründer der Tafelrunde des Königs Artus und Gralsführer Parzivals, um meine Pädagogik des Vorbilds auf seinen Namen zu taufen. Dadurch ist zwingend eine andere, von der christlichen inhaltlich abweichende „Wahrheit“, d. h. Wünschbarkeit des Menschseins, vorgegeben, die ich als Wahrheit des naturreligiösen Heidentums verstanden wissen möchte, allerdings im areligiös-schlichten Sinne von Nietzsches „Heiden sind alle, die zum Leben ja sagen“ und in Beherzigung seiner leidenschaftlichen Warnung vor aller Jenseitssüchtigkeit: „Brüder, bleibt der Erde treu“! Im Mythos Merlins wäre diese historisch vergangene heidnische Wahrheit in Gestalt eines literarischen Vorbilds aufbewahrt geblieben, der Wirkmöglichkeit ästhetischer Erziehung anvertraut.

Die Abfolge des Gedankengangs von „Merlin. Mythos und Gegenwart“ ist dadurch vorgezeichnet.

Ohne die gemeinte Wahrheit des Heidentums, das leuchtet ein, vorweg gegen die Wahrheit des Christentums kritisch unterscheidend abzusetzen und zu „rechtfertigen“, müsste ihr alle Glaubwürdigkeit fehlen und ließe sich von ihr auch keinerlei Chance zukünftiger Bedeutsamkeit und Wirksamkeit erhoffen. Daher war in einem ersten Kapitel (Jesus Christus. Der Pädagoge des Abendlandes) der Unzulänglichkeit, zumindest Fragwürdigkeit der christlichen Wahrheit im doppelten Sinne nachzugehen, dass es sich zum einen auch bei ihr – entgegen der Meinung der fundamentalistischen Gläubigen von ihrem Absolutheitscharakter – allein um eine relative, um eine symbolische Wahrheit handelt: Jesus Christus, der Christus des Glaubens, eingeborener Sohn Gottes und Erlöser der Menschheit, muss grundsätzlich genauso für eine literarische Phantasie- und Wunschgestalt gelten wie Merlin; und dass zum anderen die christliche Wahrheit inhaltlich, soll heißen, anthropologisch, ethisch gewertet, zumindest bedenklich erscheint. Zur Kritik reizt wegen des eingefleischt-erdflüchtigen christlichen Geist- und Jenseitsglaubens vor allem die daraus erwachsene, hochmütige Herabwürdigung der Natur und der Frau sowie die theodizeeverdächtige Eliminierung alles Bösen aus der Christus-Vorbildfigur. Diese dreifache Kritik hat in der Folge auch zum Leitfaden für die Erörterung des alternativen Nachfolgeanspruchs im Zeichen Merlins gedient (Grüner Gott; eine geliebte Frau, Viviane; Sohn des Teufels und einer reinen Jungfrau anstatt Sohn des lieben Gottes).

Nach der kritischen Abgrenzung gegen den Mythos Jesu Christi konnte sodann ausführlich vom Merlin-Mythos erzählt werden, d. h. in einem zweiten Kapitel sind die wenig bekannten Quellentexte der mittelalterlichen Autoren vorgestellt worden (Der Mythos „Merlin“), zumal in der Lesart von Geoffrey of Monmouth und Robert de Boron, vervollständigt durch die späteren Geschichten um Parzival und die Suche nach dem Gral von Chretien de Troyes und Wolfram von Eschenbach.

Danach ist in einem dritten, zentralen Kapitel eine stimmige Interpretation all dieser unterschiedlichen Erzählungen versucht worden (Deutung des Mythos „Merlin“): Abklärung der Doppelgestalt von Merlinus Sylvester und Merlinus Ambrosius im Rückgriff auf ihrer beider heidnisch-keltische Ursprünge; vom Waldmerlin und Naturheiligen und vom unentbehrlichen Ratgeber und Mentor von König Artus und seinen Rittern und ihrer aller, zumal Parzivals, weisem Seelenführer zur Selbstverwirklichung; mithin ist sich hier um eine pädagogisch engagierte Deutung von Merlins geistiger Gestalt in ihrer möglichen Bedeutsamkeit für Gegenwart und Zukunft bemüht worden.

Dies eigentliche Anliegen des Buches war in einem abschließenden vierten Kapitel (Merlin. Der Pädagoge des Mythos) noch zu ergänzen und zu vertiefen; durchgeführt worden ist das in drei Abschnitten vom Bild (Merlin, der Antichrist) und Vorbild Merlins (Merlin, der Seelenführer) und von der Bildung gemäß Merlins Wesen und Weisung(Parzival). Zur Abrundung des geltend gemachten geistigen Symbols „Merlin“ ist danach noch seiner Nachwirkung in der Dichtung bis zur Gegenwart nachgegangen worden.

Nikolaus Lenaus Waldmerlin, gedeutet
Mythos Merlin, zusammengefasst
back_button
forward_button
beginn_button
kapitel1
kapitel2
kapitel3
kapitel4
kapitel5
kapitel4
kapitel7
impressum
impressum