Heidentum

Es gibt in der Gegenwart eine ganze Reihe von Versuchen, das untergegangene Heidentum neu zu beleben, in der Regel in ketzerischer Absicht, d. h. in entschiedener Gegnerschaft zum Christentum und zu dessen traditioneller Bewertung zumal der Natur, der Frau und des Bösen, die als problematisch erlebt wird. In betonter Aufwertung der Natur und der Frau und einer veränderten Stellungnahme zum Problem des Bösen finden sich Ketzer dieser Art inzwischen selbst in den Reihen katholischer Theologen. In der Sache kann ich mich mit solchen Bemühungen weitgehend einverstanden erklären, wenn auch der im Folgenden vertretene Standort, und ebenfalls derjenige der Mehrzahl meiner angezogenen Gewährsleute, ein dezidiert unchristlicher, mithin nicht mehr bloß ketzerischer, sondern ungläubiger, eben heidnischer ist. Indem ich aber diese Anschauung von Shakespeare – in innerer Verwandtschaft mit Homer und den griechischen Tragödiendichtern und in Shakespeares Nachfolge von Goethe, Schiller, Nietzsche und Klages – vertreten lasse, sollte klar sein, dass ich sie nicht mit irgendeinem Paganismus verwechselt sehen möchte, der den Glauben an die alten Götter oder eine göttliche Natur zu restaurieren suchte.

Da es aber keinen anderen oder besser geeigneten Namen für solch jenseitsungläubig-erdfromme, areligiöse Haltung gibt, mag „Neuzeitliches Heidentum“ durchgehen, zumal wenigstens Goethe, Nietzsche und Klages sich selbst ausdrücklich als Heiden bezeichnet haben; und man sich im Übrigen bewusst bliebe, dass mit Shakespeare als Kronzeugen dann eine im Kern tragische Weltsicht gemeint ist: Ein von keinem Jenseitsglauben angekränkeltes Ja zur Heiligkeit des Diesseits, zu Reichtum und Schönheit des vergänglichen Erdenlebens, das alles ist, was wir haben.

startpunkt
back_button
forward_button
beginn_button
kapitel1
kapitel2
kapitel3
kapitel4
kapitel5
kapitel4
kapitel7
impressum
impressum