VORWORT BAND 1

Im West-Östlichen Divan hat Goethe zu bedenken gegeben: Wer sich nicht von 3000 Jahren Menschheitsgeschichte Rechenschaft zu geben wisse, der lebe unerfahren in den Tag hinein – ich nutze die Mahnung im Sinne meines Anliegens: Ohne Wissen über Wünschbarkeiten und Möglichkeiten des Menschseins vermag der Mensch sich nicht frei selbst zu wählen und seine Lebenswahl zu rechtfertigen und zu verantworten. Unterdes ist der Vergangenheitshorizont um noch wenigstens zwei Jahrtausende historisch erweitert worden, zumal um die frühen Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens, und auf meine alten Tage habe ich es mir vergönnt, meinen früh erwachten und unbefriedigt anhaltenden philosophisch-anthropologischen, auch mythologischen Interessen dankbar den schuldigen Tribut zu zollen, und habe mich in den letzten Jahren auf die bunte Mannigfaltigkeit der nach Ort und Zeit so überaus unterschiedlichen Vorstellungen der Menschen von sich selbst eingelassen, auf den Geister-Schatz der Völker und Kulturen, ihren Bildern von sich, ihrem Selbstverständnis.

Um darüber Genaueres in Erfahrung zu bringen, wird man sich mit deren eigenen Äußerungen über sich befassen müssen sowie mit denjenigen anderer über sie, und in beiden Fällen dürften die sprechendsten, solange es die Schrift gibt, literarische Zeugnisse sein, worin das jeweilige Denken und Fühlen detaillierteste Darstellung gefunden hat, in den Bekundungen von Religionen, Philosophien, Wissenschaften, Dichtungen, von Ethos, Sitten und Gebräuchen. Daneben wären aber auch die Manifestationen nicht sprachlicher Artefakte zu berücksichtigen, von Wohnungen und Werkzeugen, überhaupt der gesamten, der Natur abgerungenen, künstlich hergestellten Lebenswelt, im Besonderen deren Schmuckformen in Architektur, bildender Kunst und Musik. Sich über diese zahllosen, unübersehbaren Menschen-Welten Rechenschaft zu geben, ist für einen Einzelnen natürlich völlig unmöglich, und aus dieser Misslichkeit hat sich zwangsläufig eine Einschränkung ergeben, die sehr viel bescheidenere Perspektive meines Rechenschaftsversuches. Als Hochschullehrer hatte ich mich in Lehre wie Forschung vorrangig um einen Beitrag zur Pädagogik des Vorbilds bemüht. Denn nach meiner grundsätzlichen Überzeugung kann der eine den anderen erziehen – oder besser – bilden – weil es am Ende dabei auf Selbstbildung hinaus liefe – eher durch das, was er ist, als durch das, was er sagt oder gar predigt, also mittels Vorbild, wie das in der einheimisch pädagogischen Sprache heißt; und dass es in Erziehung und Bildung infolgedessen ebenso sehr um die Erziehung der Erzieher ginge wie um die von Kindern. Erfolg versprechende Vorbilder dürften in erster Linie Eltern oder Freunde oder verehrte Lehrer sein, aber schwerlich ließe sich bestreiten, dass es unbeirrte Vorbilder, Personen im großen Sinne von – sagen wir – kulturell oder national verbindlichen Vorbildern kaum noch gibt – zumindest im Falle einer in zwei Weltkriegen vernichtend geschlagenen und im letzten Jahrhundert durch drei oder vier grundstürzende Revolutionen der Staatsform hindurch gegangenen, verwirrten Nation wie der deutschen ließe sich solcher Behauptung wohl kaum widersprechen und noch weniger angesichts gegenwärtig grassierender Globalisierung und Maschinisierung des Daseins: Nach Heldenverehrung, dem Kult großer Männer aus der Vergangenheit suchte man in Deutschland wie in anderen westlichen Industriegesellschaften wohl vergeblich, und ebenso fehlen verbindliche, überdauernde geistige Vorbilder in diesen beschleunigten Zeiten. Ich beklage das nicht unbedingt, sondern stelle es zunächst nur fest, globalisierte Großwetterlage und grassierende Selbstbetonung lassen kaum etwas anderes zu. Immerhin versuche ich darauf aufmerksam zu machen, dass dadurch eine ganze Kategorie von Vorbildern verloren zu gehen droht, die einstens als höchst bedeutsam und wirkungsmächtig gegolten haben – was sie maßgeblich zu ersetzen vermöchte, um die Stabilität einer Kultur, ihren geistigen Rang und ihre menschliche Würde zu gewährleisten, dürfte nicht leicht auszumachen sein. Dass national oder gar übernational anerkannte, zumindest in den westlichen Ländern demokratisch-zeitlich eingeschränkte Politiker – von den allerwärts von der Zukunft umgehend widerlegten Diktatoren vom Typ Hitler, Stalin, Mao Tse Tung und den zahllosen monomanischen Kleingeistern ganz zu schweigen – oder renommierte, jedoch in prinzipieller Irrtümlichkeit befangene Wissenschaftler oder gar Idole wie weltbekannte Filmschauspieler, Schlagersänger, Männer, die unfehlbar Tore schießen können, die entstandene Lücke auszufüllen vermöchten, ließe sich schlecht einreden – dazu müsste man alle miteinander wohl doch als gar zu unwürdig einschätzen, geistig zu unbedarft an den Größen der Vergangenheit gemessen.

Sollte aber von deren einstiger Wirkmächtigkeit etwas zurück zu erobern versucht werden, habe ich mir gedacht, könnte es als ein womöglich nicht völlig aussichtsloses Unterfangen erscheinen, der Gegenwart deren ehemalige, einflussreiche Größe rühmend und werbend vor Augen zu führen – zum Mindesten würde man sich selbst an menschlicher Größe in der Vergangenheit wohltuend erfreuen können. Nun klingt das Prädikat „Größe“, auf bestimmte Menschen bezogen – Ramses der Große, Alexander der Große, Konstantin der Große, Karl der Große, Otto der Große, Gregor der Große, Albertus Magnus, Peter der Große, Friedrich der Große, Katharina die Große, um es bei diesen ungleichartigen Beispielen zu belassen –, heutzutage mehr als fragwürdig, im „Zeitalter des Ausgleichs“ von allem und jedem ist „Größe“ zu einem stachligen Wort geworden, das man lieber gar nicht mehr in den Mund nähme, ohne ihm ein „sozusagen“ hinzuzufügen. Und dies Verdikt könnte wohl gleichermaßen Geltung für die Rede von menschlicher Größe überhaupt beanspruchen – denn das Niederträchtig-Gemeine, Unmenschliche, was aller anerkennenswerten Größe unveräußerlich beigemischt ist, steht inzwischen überdeutlich aller Welt vor Augen: So unzweifelhaft es überindividuell-bedeutsame, Name und Wesen des Menschen Ehre und Würde verleihende und überaus einflussreiche menschliche Größe gegeben hat, die gerühmt werden darf und gerühmt werden sollte, so war diese im empirischen Fall ebenso unzweifelhaft – und wohl öfters als einem lieb sein kann – in ruchloser Eigensüchtigkeit verwurzelt, ja von nichtswürdiger Anmaßung und Perfidie dominiert. Diesem unangenehmen Einwand gegen integre, makellos-vorbildliche menschliche Größe habe ich geglaubt, in meinen bisher vorgelegten Versuchen einer Pädagogik von (literarischen) Vorbildern – mit Büchern über die „Frau ohne Schatten“ von Hofmannsthal/Strauß oder Mozarts „Zauberflöte“, über „Merlin“ und „Shakespeare“, „Frau Holle“ und Michael Endes „Unendliche Geschichte“ – dadurch entgangen zu sein, dass es sich in all diesen Fällen unverkennbar um Erdichtungen „wahren“ Menschseins gehandelt hat, um ausgedachte menschliche Vorbilder, um Wünschbarkeiten, um das belangreiche Anliegen „ästhetischer Erziehung“ im vergangenen Zeitalter – sagen wir – der Metaphysik. Dabei ging es um Steigerung des Menschen, man erschuf ihn sich in erhöhter Gestalt, verklärt, veredelt, vergeistigt oder – ganz einfach ausgedrückt – verschönt und geschönt, soll heißen, dem Anspruch nach „wahrer“ „wesentlicher“ gemacht als er es in Wirklichkeit je gewesen ist, größer, nobler, geistvoller, humaner, liebenswürdiger. Das Wort „schön“ gehört ja in den Bildungskreis des Verbs „scheinen“ im Sinne von „aufglänzen“, und Platon hatte Schönheit im „Phaidros“ (250d7) aufschlussreich als „ekphanéstataton“ und „erasmiótaton“ gekennzeichnet, als „Erscheinendstes“ und „Liebreizendstes“. Als eingefleischter Idealist hatte er aber bekanntlich entschieden, dass mit den körperverhafteten Sinnen die übersinnliche Idee nicht wahrgenommen werden könne. Für mein Anliegen sowie im Denkhorizont des neuzeitlich-skeptischen Subjektivismus und aus der Künstlerperspektive heraus gesehen, folgere ich daraus: Das Schöne offenbart nicht das „Wahre“, das „Wesen“. Mit Nietzsche wäre sich danach zu versichern, dass „die Künstler nichts so sehen, wie es ist, sondern voller, sondern einfacher, sondern stärker“ (Wille zur Macht, 801). Und wollte man sich von einer weiteren Formulierung Platos anregen lassen, seiner Bestimmung der Paideia, der Erziehung, als „tókos en kaló“, als „Zeugung im Schönen“, so ließe sich die überlieferte große Kunst vielleicht als „Erzeugung des Schönen“ auffassen – vielversprechend im Hinblick auf den Nutzen bei Deutung moderner Kunstwerke dürfte dann auch „Kritisches„, „Ironisierendes“, „Karikierendes“, „Verzerrendes“, ja selbst das „Hässliche“ (= Hassenswerte) definitorisch „schön“ genannt werden, denn auch in diesen Fällen würde etwas sichtbarer gemacht werden, als es normalerweise erscheint, verdeutlicht werden – allerdings fehlte das Liebenswürdige, und damit wäre größtenteils wohl auch die Vorbilddimension abhanden gekommen.

Am Beispiel meiner in Buchform vorgelegten Deutungen von Märchen-Gestalten aus „Zauberflöte“ und „Frau ohne Schatten“ dürfte diese der großen Kunst der Vergangenheit nach meinem Dafürhalten angeborene Phantasie- oder Möglichkeitsdimension am ungezwungendsten nachzuvollziehen sein: Die vier Hauptfiguren – Tamino/Pamina und Papageno/Papagena sowie Kaiser/Kaiserin und Färber/Färberin – sind von mir zwecks dieses Anliegens ästhetischer Erziehung zu jeweils einer einzigen „schön-wahren“ Vorbildfigur und exemplarisch „humanen“ Bildungsgeschichte vereint worden: So gedeutet, wären mit den märchenhaft wunschträumend ausgedachten dramatis personae unverzichtbare Anteile des vollständigen Menschenwesens wie Männliches/Weibliches, Geistiges/Leibliches zu einer Einheitsgestalt faszinierend menschlicher Möglichkeiten vorbildhaft, also zur Nachfolge auffordernd, bildend vorgestellt worden. Das „Frau-Holle“-Märchen und die „Unendliche Geschichte“ wären dementsprechend als eine in symbolischen Bildern erzählte, vorbildhafte Bildungsgeschichte eines Mädchens zur Reife einer liebenswürdigen Frau und zukünftigen „wahren“ Mutter zu lesen bzw. als die Selbsterfahrungen eines Jungen auf seinem Schicksalsweg zu selbstverantworteter Selbstverwirklichung. Beim „Mythos Merlin“ ginge es um die vereinheitlichende Personalisierung der Geschichten, die über Jahrhunderte hinweg von Merlinus Sylvester, sozusagen einem Grünen Heiligen, sowie vom spiritus rector der Artus-Ritterschaft und weisen Mentor der Gralssuche Parzivals erzählt worden sind – Deutungsabsicht dabei war, das Hochbild eines mythischen Pädagogen oder – besser gesagt – Psychagogen vor Augen zu führen, der in seinem unterschiedlichen Verhältnis zu Natur und Frau und zum Bösen der göttlich-maßgeblichen Vorbildfigur des Abendlandes in Gestalt Jesu Christi ergänzend, für seine heidnische Wahrheit des Erden- und Menschenlebens werbend, zur Seite treten könnte. Auch im Fall von „Shakespeare als Erzieher“ war es mir keineswegs um die historisch-empirische Person des kaum verlässlich nachweisbaren Autors aus Stratford-upon-Avon zu tun gewesen, sondern um den Versuch, die Protagonisten seiner berühmtesten Werke – Hamlet, Macbeth, Othello, Lear, Caesar und Brutus, Antonius und Kleopatra – zu Shakespeares eigenster Wunschgestalt wahrer Menschlichkeit unter dem Namen „noble“ zu vereinigen.

Das jetzige Vorhaben – „Bild des Menschen im Spiegel der Kunst“ – versucht sich an einer Rekonstruktion der überaus unterschiedlichen, jeweils absolutistische Geltung beanspruchenden Menschenbilder aus einem Zeitraum von 5000 Jahren bildender Kunst und Architektur – angefangen mit den Hochkulturen Ägyptens und Babylonien, durch die großen abendländisch-christlichen Kunstepochen hindurch bis hin zu den Wünschbarkeiten „wahren“ Mensch-seins in Buddhismus, Hinduismus und Islam sowie in Neuzeit und Jetztzeit. Zum Zwecke eines vertieften Einblicks in die verschiedenartigen Menschen-Bilder erschien mir der Umweg über ein dafür vorausgesetztes Verständnis der jeweiligen metaphysischen Überzeugungen unumgänglich, über den kulturabhängig geprägten Glauben an Geister und Götter oder daran, was sonst als Transzendent-Werthöchstes gewürdigt wurde, um etwas über die Menschlichkeit des Menschen in Erfahrung bringen zu können, wie sie ihm von seinen Göttern oder von einem Mensch gewordenen Gott zugespiegelt wurde oder Wesen und Wille seiner Gottheit ihm vorzuschreiben schienen und wonach er sich daher im Leben zu richten hätte, um sich des göttlichen Wohlwollens als gottgefälliger, als „wahrer“ Mensch versichert fühlen zu können. Ich bin selbst überrascht gewesen, wie folgerichtig sich bei Durchführung dieses Vorhabens aus den Jenseitsbildern von Gott und Mensch sowie aus den Niederschlägen des geforderten Ethos in der religiös bestimmten Architektur von Tempeln und Kirchen, Grabbauten und Denkmalen kulturabhängige Hochbilder erschließen ließen, Anweisungen für erwünschtes Denken und Handeln, die den jeweilig kultureinheitlichen, aber ansonsten grundverschiedenen Bildern möglichen Menschseins verdankt wurden – man konnte sie also zu kulturell-spezifischen Vorbildern vom „wahren“ Menschen zusammenzufassen versuchen. Keineswegs ist daher gemeint, die Bilder, die ich gezeichnet habe, vom ägyptischen, griechischen, vom buddhistischen, christlichen, islamischen Menschen, repräsentierten die empirische Wirklichkeit der betreffenden Menschengruppen, noch wird hier dem absolutistischen Glauben beigepflichtet, das je eigene Bild des Menschen sei das allen anderen überlegene, womöglich gottgewollte und einzig wahre. Vielmehr sind allein Hochbilder und danach auch als Vorbilder dienende Bilder des Menschen vorzustellen versucht worden, Bilder von im Spiegel der Kunst erhöhten, verklärten menschlichen Möglichkeiten. Allerdings reklamiere ich in Hinsicht auf einen zu erhoffenden Nutzen solcher „Pädagogik des Vorbilds“ zusätzlich, dass „Möglichkeiten“ der gemeinten Art etwas „vermögen“ könnten – „mögen“ bedeutet nach etymologischer Auskunft ja so viel wie „können“ im Sinne von „zu etwas taugen“. Solcherart Möglichkeiten besäßen daher eine – abermals etymologisch verwandte – „Macht“, weil wir sie „mögen“, weil sie als liebenswürdig erlebt werden. Die liebenswerten Wünschbarkeiten vermöchten infolgedessen anziehend, anspornend, steigernd, vervollkommnend zu wirken, bildend im Sinne einer Schulung des Möglichkeitssinns in Folge der Schwächung des Realitätssinns durch die „milde Narkose“ (Freud) der Kunst, die Ermöglichung von freier Selbstwahl und Selbstverwirklichung – man vermag die Nachfolge der Vorbilder willentlich anzugehen, weil man zuvor im Erleben von ihnen ergriffen, überwältigt wurde; weil durch eine seelisch-geistige Anteilnahme am Erlebnis- und Bedeutsamkeitsgehalt des Kunstwerks eine erosbestimmte Verwandlung initiiert wurde, Bildung in Folge ahnungsvoller Entbindung des eigenen „wahren“ Selbst und willige Befolgung der von Rilke einem „Torso Apollos“ abgesehenen Mahnung: „Du musst dein Leben ändern!“ Für die Vergangenheit metaphysikbezogener Menschenbilder darf diese Annahme vielleicht prinzipielle Gültigkeit beanspruchen: Die verklärende Kunst hat mit den ihr eigenen Mitteln zu Stabilität und Einheitlichkeit der Kultur ihren nützlichen Beitrag geleistet, zur Stärkung von Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit der ihr Angehörigen, zur Selbsterhöhung, aber auch Selbstüberhöhung und Selbstüberhebung, und zwar grundsätzlich in Übereinstimmung mit den jeweilig vorgegebenen kulturellen Selbstverständlichkeiten – und dabei den Umweg über Gotteswesen und Gotteswillen zur Bestimmung von Menschenwesen und geschuldetem Menschenwillen zu nehmen, hat sich in den mythologischen Zeiten anscheinend unwiderstehlich aufgedrängt, bis die altehrwürdige Theonomie im neuzeitlichen Europa schließlich der selbstgewissen Anthroponomie weichen mußte. Mit Gebäuden und den kolossalen Steinstatuen ihrer Gottheiten, den vergöttlichten Pharaonen oder babylonischen Großkönigen war dem gläubigen Volk in illo tempore überwältigend vor Augen geführtt worden, was das Höchst-Erstrebenswerte für es sein sollte, seine innigste Wünschbarkeit, Garant von Macht und Ewigkeit wie beispielsweise die Pyramiden. Die fromme Kreterin hatte in Verehrung ihrer Großen Göttin deren Begehr nach fruchtbarer Weitergabe des göttlichen Allebens nachzukommen, mit dem Bildwerk auf dem Sarkophag suchte sich der Etrusker, die geliebte Gemahlin zur Seite, der Fortsetzung dionysischer Erdenlust in einem nie endenden jenseitigen Festmahl zu vergewissern. Der antike Grieche erlebte in seinen nackten Götterstatuen die inspirierende Apotheose geistvoll-schöner Leiblichkeit, der Stachel in seinem Fleisch, sich frei und mutig im selbstverantworteten Polis-Leben zu gleicher Kalokaghatia und Megalopsychia empor zu bilden. Der Römer mochte in den steinernen und bronzenen Büsten seiner Cäsaren seinen eigenen Macht-Anspruch versinnbildlicht und aufs Höchste gesteigert wahrnehmen, zur Stärkung von Stolz und Selbstbewußtsein eines Bürgers des ewigen Imperium Romanum. Der gläubige Christ sollte sich demütig zu seinem heillosen Sünderdasein bekennen und auf den geoffenbarten Heilswillen eines gerechten Richters am Ende der Zeiten gläubig und hoffend vertrauen, damit er sich der Begnadigung aufgrund eines gottgefälligen Lebens würdig erwiesen hätte oder selbst unverdientermaßen in den Himmel aufgenommen werden könnte. Oder er war geheißen, in Anbetracht der Demutsgestalt eines Mensch gewordenen Gottessohns, der sich alliebend zu ewigem Heil der Menschheit aufgeopfert hätte, sich zu geboten-dankbarer Gottes- und Nächstenliebe in seinem Erdenleben bestimmt zu fühlen und sich in Ansehung der allerheiligsten Gottesmutter um sein Seelenheil und das Wohl seiner Mitmenschen so zu kümmern wie eine fürsorglich-liebende Mutter um ihr einziges Kind. Der Buddhist mag seine Zuflucht zu Buddha nehmen, sich von den Reizen und Lüsten der vergänglichen Welt lösen und allen Lebens-Durst löschen, um endgültig dem leidigen Los ewiger Wiedergeburten zu entkommen. Der fromme Hindu soll, seinen ungerührt welttanzenden Shiva vor Augen, wissend durchschauen, dass dem ewigen Wirbel von Entstehen und Vergehen einzig entgehen könnte, wer über das Unwesen der Wirklichkeit nach dem Vorbild der Gottheit wie über einen hässlichen, verkrüppelten Zwerg wirbelnd hinweg tanzt, um in das einig-ewige Jenseits von allem Maya-Scheinwesen irdischen Wechsels und Wandels einzugehen. Und der gläubige Muslim sollte sich demutsvoll dem allmächtigen Willkür-Willen Allahs unterwerfen, wie er im ewigen Koran von dessen Propheten kundgetan worden wäre, damit er auf ewig die Wonnen des Paradieses genießen könne.

So weit, jeweils ganz kurz gesagt, bin ich bisher mit meinem Rechenschaftsabenteuer bezüglich der Möglichkeiten „wahren“ Menschseins im Anhalt an den Meisterwerken bildender Kunst und Architektur zurande gekommen – im vorliegenden ersten Band in Darstellung und Deutung der großen Kunst des christlichen Abendlandes von Byzanz über Gotik und Romanik bis zu Renaissance und Barock sowie des Buddhismus und Indiens, Alt-Kretas und Etruriens. In einem zweiten Band von ca. 750 Seiten, der fertig gestellt ist und dessen Veröffentlichung alsbald nachfolgen soll, wird das antike Griechenland im Rückgriff auf seine Geschichte, seine Mythologie, seine Dichtung, Philosophie, Wissenschaft und insbesondere auf seine Kunstwerke unter demselben Blickwinkel der ästhetischen Erziehung ebenfalls an Hand von beigegebenen Bildern vorgestellt, als für das geistige Europa maßgeblich humanistisches Vorbild. Für einen dritten Band ausgearbeitet sind Kapitel über das alte Ägypten und Babylonien, über Rom und den Islam, zusammen ungefähr 500 Seiten. Abschließend soll in einem vierten Band ein Großkapitel über die europäische Neuzeit ab Renaissance und Barock bis zur Gegenwart folgen mit zusätzlich einigen kürzeren Ausblicken auf die so befremdlich anderen ostasiatischen und zentralamerikanischen Kulturen – deo concedente oder wie es einem Ungläubigen sich auszudrücken besser anstünde: Solange das Lämpchen brennt. Ausgedruckt worden sind die Einzelkapitel des ersten Bandes in der Reihenfolge, in der ich sie in über zehn Jahren Arbeit nacheinander verfasst habe, zur Veranschaulichung sind nahezu 100 Abbildungen beigefügt.

Für die Mühsal der Übertragung meiner Manuskripte in eine computergeschriebene Form und für Sichtung und Anfertigung der zahlreichen Bilder zur Illustration des Textes bedanke ich mich herzlich bei Frau Anna Specht sowie bei meinem Sohn Ludwig für die ansehnliche Gestaltung der Buchfassung.

Aachen, Weihnachten 2011.

startpunkt
back_button
forward_button
beginn_button
kapitel1
kapitel2
kapitel3
kapitel4
kapitel5
kapitel4
kapitel7
impressum
impressum